Leistungsstörungen bei Wertpapiergeschäften und deren Regulierung nach CSDR, SSR, Börsenrecht, ICMA und BGB
Aktualisiert: vor 2 Tagen
Literaturhinweis: Müller-Lankow, WM 2024, 1641-1649
Im börsentäglichen Wertpapiergeschäft ist die verspätete Belieferung ein sehr häufig anzutreffendes Phänomen. Es ist sogar derart häufig, dass der europäische Gesetzgeber darin systemische Risiken sieht und sich schon vor über zehn Jahren zum Ziel gesetzt hat, die Marktpraxis strenger zu regulieren. Bisher konnte er sich jedoch nur mit mäßigem Erfolg durchsetzen. Denn Ursache von Lieferverzögerungen sind häufig Leerverkäufe, welche gerade bei illiquiden Wertpapieren einen positiven Beitrag zur Liquidität und Effizienz der Märkte leisten. Entsprechend hoch ist der Gegendruck aus der Finanzindustrie.
Dieser Beitrag wirft einen Blick auf die Hintergründe von Lieferverzögerungen und den aktuellen Stand ihrer Regulierung nach der Central Securities Depositories Regulation (CSDR), der Short Selling Regulation (SSR), dem Börsenrecht, der International Capital Market Association (ICMA) und dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Mit Blick auf das materielle Recht des BGB werden darüber hinaus diesbezügliche Ersatz- und Herausgabeansprüche sowie die Rechtsfolgen einer nachträglichen Unmöglichkeit der Lieferung näher betrachtet.
Inhaltsübersicht
I. Ökonomische Hintergründe von Lieferverzögerungen
II. Lieferverzögerungen im Rangverhältnis des Leistungsstörungsrechts
III. Geldbußen und Eindeckungsverfahren nach CSDR und SSR
1. Ein Gesetzgeber auf Irrwegen
2. Geldbußen (Strafzahlungen) nach der CSDR
3. Eindeckungsverfahren nach der SSR
4. Eindeckungsverfahren nach der CSDR
IV. Eindeckungsverfahren nach Börsenrecht
V. Eindeckungsverfahren nach den ICMA Rules & Recommendations
VI. Regulierung von Leistungsstörungen nach dem BGB
1. Ersatz der Mehrkosten eines Ersatzkaufs als Schadensersatz statt der Leistung
2. Rücktritt vom Kaufvertrag
3. Ersatz- und Herausgabeansprüche gegenüber Kunden
4. Wegfall der Lieferpflicht bei nachträglicher Unmöglichkeit
VII. Fazit
I. Ökonomische Hintergründe von Lieferverzögerungen
Im Jahr 2023 lag die monatliche Abwicklungseffizienz, d.h. der Anteil der Geschäfte, die rechtzeitig zum vorgesehenen Abwicklungstag abgewickelt werden konnten, von über TARGET2-Securities (T2S) abgewickelten Zahlungsinstruktionen nach ihrem Volumen im Durchschnitt bei 94,3 %. Trotz dieses relativ hohen Niveaus mag es intuitiv Bedenken auslösen. So hat der europäische Gesetzgeber aufgrund potenzieller „Unsicherheiten und Risiken“ (ErwG 13 CSDR) ein umfassendes Regulierungspaket vorangetrieben. Das diesem zugrundeliegende Bild von Lieferverzögerungen scheint tendenziell negativ geprägt zu sein. Die CSDR spricht von „Abwicklungsdisziplin“, als ginge es um mangelnde Disziplin der Marktteilnehmer. Auch spricht die CSDR nicht bloß von einer verspäteten Abwicklung, sondern in drastischerem Ton von der „gescheiterten Abwicklung“. Und der bloß säumige Verkäufer wird zum „ausfallenden Teilnehmer“.
Nach einer Untersuchung der ICMA aus dem Jahr 2021 lag der Grund einer verspäteten Belieferung des Wertpapiergeschäfts in etwa 71 % der Fälle am fehlenden eigenen Bestand zur Lieferung verpflichteten Marktteilnehmers. Darunter war wiederum der Verkäufer in der Mehrzahl der Fälle Glied einer Kette von Transaktionen und wurde selbst aus dem vorangegangenen Kauf noch nicht beliefert (daisy chain of fails). Zweithäufigster Grund für den fehlenden eigenen Bestand waren Probleme bei der Beschaffung illiquider Wertpapiere. In etwa 27 % der Fälle waren nach der ICMA-Untersuchung fehlerhafte Abwicklungsinstruktionen ursächlich, die ein Matching verhindert haben.
Im Falle des fehlenden eigenen Bestands geht der verspäteten Lieferung regelmäßig ein Leerverkauf voraus. Dieser kann entweder von dem ausfallenden Teilnehmer selbst oder von einem vorangegangenen Verkäufer in einer Kette von Transaktionen vorgenommen worden sein. Zwar löst das Schlagwort „Leerverkauf“ teilweise reflexartig moralische Bedenken aus, da es vielfach mit der Tätigkeit von Spekulanten oder Hedgefonds in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich spielen Leerverkäufe eine wichtige Funktion bei der Liquiditätsversorgung der Märkte. Die Bereitstellung von Liquidität durch Market-Maker ist wiederum von besonderer Bedeutung, was der europäische Gesetzgeber auch explizit anerkennt, indem er Market-Making-Tätigkeiten nach Art. 17 Abs. 1 SSR vom Verbot ungedeckter Leerverkäufe ausnimmt. Haupttätigkeit der Market-Maker ist die Bereitstellung von Liquidität, indem sie kontinuierlich durch das Stellen von Kauf- und Verkaufspreisen für Geschäfte zur Verfügung stehen. Die Tätigkeit des Market-Makers ist risikoavers, da er – anders als ein Spekulant oder Hedgefonds – nicht auf Marktpreisbewegungen wettet, sondern seinen Gewinn aus kleinen Preisdifferenzen aus kontinuierlichen Käufen und Verkäufen erzielt. Zur Reduzierung des Marktpreisrisikos ist er bemüht, seine positiven wie negativen Bestände gering zu halten. So ereignet es sich regelmäßig, dass der Market-Maker auch ohne eigenen Bestand Verkäufe tätigt und sich dann hinsichtlich der erforderlichen Menge irgendwo am Markt eindeckt. Dies ist bei liquiden Wertpapieren leichter möglich. Bei illiquiden Wertpapieren mit geringem Handelsvolumen kann eine Glattstellung zu einem marktgerechten Preis jedoch durchaus mehrere Tage in Anspruch nehmen und somit Lieferverzögerungen nach sich ziehen.
Die Auswirkungen von Leerverkäufen bzw. der Einführungen von Leerverkaufsverboten waren bereits Gegenstand diverser empirischer Untersuchungen. Diese gelangen, soweit ersichtlich, zu zwei wesentlichen Erkenntnissen: Leerverkäufe verbessern Marktliquidität und Markteffizienz. Liquidität beschreibt allgemein, wie leicht oder schwer es ist, Transaktionsinteressen zu verwirklichen, ohne den Preis dadurch erheblich zu beeinträchtigen. Markteffizienz bezeichnet die Fähigkeit eines Marktes zur Bildung marktgerechter Preise. Wenn der europäische Gesetzgeber sich darum bemüht, verspätete Belieferungen einzuschränken bzw. zu sanktionieren, wirkt sich das auch auf die Bereitschaft der Marktteilnehmer aus, Leerverkäufe durchzuführen. Denn Lieferverzögerungen verursachen dann zusätzliche Kosten. Diese werden wiederum über eine Anpassung der Handels- bzw. Bepreisungsstrategien an den Markt weitergeben, was wiederum die allgemeine Marktliquidität und Markteffizienz verschlechtert. Letzteres erkennt selbst der europäische Gesetzgeber an verschiedenen Stellen der Gesetzgebung an.
Die Debatte um Sinn und Unsinn von Leerverkaufsverboten und die Vermeidung verspäteter Lieferungen bewegt sich also in einem starken Spannungsfeld. Es wäre wünschenswert, wenn der europäische Gesetzgeber seine Beweggründe hinter den Regelungen zur Abwicklungsdisziplin substantiierter begründen würde, beispielsweise deren Relevanz für den Anlegerschutz. Denn der einfache Anleger wird i.d.R. keinerlei Berührungen mit etwaigen Lieferverzögerungen haben. Seine Depotbank wird in seinem Auftrag erworbene Positionen unmittelbar nach dem Kauf und bereits vor der Lieferung buchungstechnisch gegenüber dem Anleger erfassen, sodass dieser im Regelfall vom tatsächlichen Zeitpunkt der Lieferung keine Kenntnis erlangt. Der Anleger kann seine Depotbank auch bereits vor der Lieferung wieder mit der Veräußerung beauftragen. Zahlt der Emittent eine Dividende, Zinsen oder Tilgung zwischen Kauf und Lieferung, wird das Depotbankensystem diese nicht mehr dem Verkäufer bzw. dem Noch-Eigentümer, sondern dem daran wirtschaftlich berechtigten Käufer gutschreiben. Es wäre auch wünschenswert, dass der Gesetzgeber näher begründet, inwieweit sich verspätete Lieferungen überhaupt negativ auf die Marktintegrität und den Anlegerschutz auswirken können, insbesondere vor dem Hintergrund bestehender Branchenstandards sowie dem Regelungskomplex aus Settlement Finality Directive (SFD) und der Financial Collateral Directive (FCD).
- Ende des Textauszugs -
Gesamter Aufsatz: WM 2024, 1641-1649
Geldbußen (auch: Strafzahlungen, Geldstrafen oder Cash Penalties) nach CSDR können bei der Abwicklung von Wertpapiergeschäften anfallen.